Der Band Mythos und
Geschlecht / Mythes et différences des sexes
versammelt die verschiedenen Vorträge, die
während des gleichnamigen Kolloquiums im
September 2004 an der Universität
Rouen-Haute-Normandie gehalten wurden. Diese Tagung
war das erste hoffnungsvoll stimmende Ergebnis der vor
kurzem begonnenen Zusammenarbeit zwischen der
Universität der Haute-Normandie und den
Universitäten Niedersachsens, vornehmlich
Osnabrücks und Hannovers.
Das Symposium entstand aus dem dreifachen Wunsch, einerseits die Geschlechterforschung im Rahmen der europäischen bzw. deutsch-französischen Beziehungen vor dem Hintergrund des gemeinsamen, in seinem Variantenreichturn unbedingt weiter zu untersuchenden europäischen Mythenvorrats neu zu verorten, andererseits die innerhalb der französischen Literaturwissenschaft wegen hartnäckiger institutioneller Widerstände eher vernachlässigten Gender Studies durch die Impulse der deutschen Germanistik anzuregen und in Bewegung zu setzen. Schließlich wollten wir auch unseren eigenen Beitrag zur europäischen Vielsprachigkeit leisten und einen weiteren Beweis erbringen, dass Kolloquien in zwei bzw. mehreren Sprachen abgehalten werden können und sollten, wenn man die diversité culturelle nicht nur virtuell hervorzaubern, sondern praktisch verwirklichen will (1). Der deutsche Titel Mythos und Geschlecht setzte sich auf Anhieb durch. Probleme gab es indessen mit der französischen Titelgebung. Das französische Wort sexe verweist nämlich ausschließlich auf das biologische Geschlecht, genre (die Übersetzung des amerikanischen gender) hat sich aber in Frankreich außerhalb von Spezialistenkreisen noch kaum durchgesetzt und hat im Übrigen auch den Nachteil - der natürlich gleichzeitig auch ein Vorteil sein kann - mehrdeutig zu sein: es kennzeichnet zugleich die literarische Gattung und das grammatische Genus. So blieb uns die Umschreibung différences des sexes als Aquivalenz zu Geschlechterdifferenz oder der von Hélène Cixous und Jacques Derrida eingeführte Begriff der différence sexuelle, der, im Plural verwendet, weder essentialistisch noch ontologisch vereinnahmt werden kann, sondern auf die Vielfalt der Möglichkeiten und Situationen sowie auf das Kontinuum zwischen Natur und Kultur hinweist. In Frankreich wie in Deutschland sind die Beziehungen zwischen Geschlecht und Mythos bislang noch kaum untersucht worden. Die überaus fruchtbaren französischen und deutschen Mythenforschungen hinterlassen hier eine Lücke, obwohl doch ausgerechnet die Begründerin des modernen Feminismus, Simone de Beauvoir, mit ihrem bahnbrechenden Werk Le Deuxième sexe (1949) schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg starke impulse dazu gegeben hatte. Denn ihre kritische Untersuchung und Infragestellung der weiblichen Situation setzt mit der Stigmatisierung der Mythen des éternel féminin (des Ewig-Weiblichen) ein. Mehrere Artikel zu diesem Thema wurden sogar schon 1948 in der von Beauvoir und Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps Modernes veröffentlicht. Simone de Beauvoir ist die erste gewesen, die behauptete, dass die Mythen immer schon ,vergeschlechtlicht', d.h. geschlechtlich bestimmt (sexués) sind: ,,L'asymétrie des deux catégories mâle et femelle se manifeste dans la constitution unilatérale de mythes sexuels", schrieb sie im ersten Band Les faits et les mythes ihres bedeutenden Werkes: ,,Il est toujours difficile de décrire un mythe; il ne se laisse pas saisir ni cerner, il hante les consciences sans jamais être posé en face d'elles comme un objet figé. Celui-ci est si ondoyant, si contradictoire qu'on n'en décèle pas d'abord l'unité [...1". Etwas später führt sie aus, sich auf Kierkegaard beziehend: ,Être femme, dit Kierkegaard, est quelque chose de si étrange, de si mélangé, de si compliqué, qu'aucun prédicat n'arrive à l'exprimer et que les multiples prédicats qu'on voudrait employer se contrediraient de telle manière que seule une femme peut le supporter"(2). Ihre fiktionalen Schriften zeugen weiterhin davon, dass sie selbst anfing, gewisse Mythen aus einer weiblichen Perspektive zu überschreiben(3), zudem schloss sie nicht aus, dass neue Mythen durch noch zu erfindende erotische Beziehungen zwischen Mann und Frau entstehen könnten (4). In einer Beauvoir gewidmeten Sondernummer der Zeitschrift L'Arc schrieb Hélène Cixous im Jahre 1975 den für die Generation der gegenüber Beauvoir keineswegs unkritischen Töchter grundlegenden Text Le rire de la Méduse, in dem das weibliche Schreiben dank der Umkehrung und Umfunktionierung des alten Mythos in leidenschaftlichen Tönen hochstilisiert und herbeigewünscht wird. Im Laufe der siebziger Jahre bot Hélène Cixous in ihren séminaires weitere Überschreibungen und Umdeutungen gängiger Mythen an (5). Daher müsste auch ihr Werk aus dieser Perspektive untersucht werden. In der Bundesrepbulik hat der Philosoph Hans Blumenberg sich 1971 deutlich im Rahmen der Reihe Poetik und Hermeneutik (IV) mit dem "Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos" auseinandergesetzt. Vertieft und strukturell stark erweitert wurde dieses Modell in der Arbeit am Mythos 1979. Er betont insbesondere die "Profiltiefe" (6), die ein Mythos durch verschiedene Variationen gewinnt. Die permanente Ubermalung der nicht überlieferten Struktur formiert das Mythische, den Kern, der die Tradition erstellt, weiterreicht und durch Neu- und Reformulierungen ergänzt. Die vielleicht dadurch angeregte, allmählich sehr breite literarische Beschäftigung mit Mythos, Mythen und Mythenmaterial wurde in Deutschland über Autoren der DDR, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre erneut ins Bewusstsein gerückt und in das Spinnennetz vorläufiger politischer Transformationen gestellt. Wolfgang Emmerich formuliert in seiner Kleinen Literaturgeschichte der DDR Folgendes: ,,DDR-Literatur ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu keiner Zeit ort- und zeitlos gewesen. Sie bezog sich, in der Regel gewollt und häufig gezwungenermaßen, auf die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie, wiederum: gewollt oder auch nicht, entsprungen ist"(7). So auch bei Christa Wolf, Heiner Müller u.a., die bei ihren Mythendiskussionen Geschlechterfragen, Fragen zum Staat DDR und eigene geschichtsphilosophische Veränderungen eingeblendet haben. Heinz-Peter Preusser weist in seiner Studie Mythos als Sinnkonstruktion (2000), in der er ostdeutsche Autoren und deren Mythosprojekte charakterisiert und einordnet, auf den engen Zusammenhang zwischen Mythos und Ausgrenzung des Weiblichen hin: ,,Auch die Phantasie kann monolinear denken, gerade dann, wenn sie nicht weiter reicht, als Ursprünge zu bebildern. Hier sind es Ursprünge einer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Die Verdrängung des Weiblichen erhält Anfang und Ende, und zwischen beiden Polen spannt sich der Prozeß der Zivilisation, ein fataler Fortschritt, der für diese Reduktionsgeschichte verantwortlich gemacht wird"(8). Schon Inge Stephan hat in ihrer Untersuchung Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts konstatiert, dass ,,zugleich die besonderen Schwierigkeiten thematisiert werden [können], mit denen gerade Autorinnen konfrontiert sind, wenn sie auf Mythen zurückgreifen, in denen die Gründungsgeschichte der patriarchalischen Ordnung und die Konstituierungsgeschichte des männlichen Geschlechts verschlüsselt als Geschlechterkampf und als Unterwerfung des Weiblichen erzählt werden."(9) In den achtziger Jahren erschien in Frankreich das Aufsehen erregende Buch von Michelle Coquillat La Poétique du mâle (1982), in dem sich die Autorin mit der Mimesis der Schöpfung bzw. des Gebärens und den entsprechenden männlichen Mythen bei verschiedenen Schriftstellern befasst. Einen erwähnenswerten Beitrag zu der sonst kaum behandelten Thematik leistete in den neunziger Jahren die Literaturwissenschaftlerin Marie Miguet-Ollagnier mit dem Kapitel "Révisionnisme mythologique" ihrer Studie Métamorphoses du mythe, in dem sie die Aufwertung der mythischen Frauenfiguren bei Marguerite Yourcenar, Michèle Sarde und Hélène Cixous untersucht. Entscheidend jedoch war der Beitrag der Philosophin und Historikerin Geneviève Fraisse mit dem zuerst 1989, dann 1995 wieder veröffentlichten Essay Muse de la raison. Démocratie et exclusion des femmes en France, ebenso bedeutsam waren etliche ihrer in den neunziger Jahren erschienenen und schließlich in dem Buch La Controverse des sexes wiederaufgenommenen Artikel. Alle diese Beiträge gehen davon aus, dass mit der Französischen Revolution, d.h. dem Beginn der demokratischen Ära, ein in unterschiedlichsten Mythen festzustellendes dérèglement des représentations des sexes einsetzte und damit auch Ansätze und Entwürfe fir neue Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Diese Tatsache lässt sich parallel im deutschsprachigen Raum im vielfachen Auftauchen und Aufblühen mythischer Figuren wie z.B. der Lorelei, der Sirenen, Undinen und anderen Wasserfrauen bei diversen Schriftstellern der Goethezeit dokumentieren. Die Reflexion über Mythen in ihrer Beziehung zum Geschlecht darf übrigens auch nicht vom Denken der Postmoderne getrennt werden, insbesondere nicht vom Werk des Philosophen Jean-Luc Nancy, der in seinem Buch La Communauté désoeuvrée (1986, 3. Auflage: 1999) über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Weiterbestehens des Mythos und über die Notwendigkeit seiner "Unterbrechung" (rupture) nachdachte. Wenn seine Arbeit auch nicht unmittelbar den Bezug zwischen Mythos und Geschlecht behandelt, ebensowenig wie das Thema der Geschlechterdifferenzen bzw. der Dekonstruktion der Geschlechterdifferenzen, ergibt sich hingegen ein Bezug zur Infragestellung des seit dem achtzehnten Jahrhundert herrschenden Diskurses über die menschliche Singularität, mit deren Worten zur Neudefinition der Beziehungen zum Anderen und zum Individuum als être singulier pluriel, so der Titel eines weiteren 1996 herausgegebenen Werkes. Die Unterbrechung des Mythos wird mit der Neudefinition der Beziehung zum Anderen, des Aneinandergrenzens, in unmittelbare Verbindung gebracht: "Mais l'interruption du mythe définit la possibilité d'une 'passion' égale à la passion mythique - et cependant déchaînée par la suspension de la passion mythique: une passion ,consciente', lucide' [...], une passion ouverte à la comparution et pour elle, la passion non de se fondre, mais d'être exposé, et de savoir que la communauté ellemême ne limite pas la communauté, qu'elle est toujours au-delà, c'est-à-dire au-dehors, offerte au-dehors de chaque singularité, et pour cela toujours interrompue sur le bord de la moindre de ces singularités. L'interruption est au bord, ou plutôt elle fait le bord où les êtres se touchent, s'exposent, se séparent, communiquent ainsi et propagent leur communauté. Sur ce bord, vouée à ce bord et suscitée par lui, née de l'interruption, il y a une passion - qui est, si on veut, ce qui reste du mythe, ou qui est plutôt elle-même l'interruption du mythe"(10). So hinterfragen die in diesem Band enthaltenen Beiträge die historischen und philosophischen Begründungen, Bedeutungen und die Tragweite der Transformationen der Mythen in der Moderne bzw. Postmoderne, und jede Analyse wirft die Frage auf, ob die vollzogenen, auf einer anderen Auffassung der Geschlechterdifferenzen beruhenden mythischen Variationen lediglich den unlesbaren mythischen Ursprungskern kritisieren oder ob sie ihn subversiv umfunktionieren und entkräften, ob die Mythen also in solchen Transformationen weiter tradiert oder im Gegenteil dekonstruiert bzw. unterbrochen' werden - kurz, ob durch die Umwälzungen der Geschlechterdifferenzen die Mythen erneuert oder ob ihre Existenz erschüttert bzw. ihr Wesen radikal verändert werden. Wie sehen weibliche Genealogien aus? Was wird aus dem Mythos nach dem Tod des Vaters? Nach welchen Modalitäten werden die Mythen dekonstruiert? Wie haben die ,,alten" europäischen Mythen den Aufbruch einer ,,neuen" Welt nach dem Zweiten Weltkrieg registriert? Dies sind weitere Fragen, die im anschließenden, im September 2005 an der Universität Osnabrück veranstalteten Symposium behandelt werden sollen. |
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1 Vgl. dazu: Monika Schmitz-Emans, Uwe Lindemann: Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg: Sychron 2004. 2 Simone de Beauvoir: Le Deuxième sexe. Paris: Gallimard 1949, tome 1, S. 235-236. 3 Françoise Rétif: Simone de Beauvoir. L'autre en miroir. Paris: L'Harmattan 1998. 4 [...] il semble qu'une nouvelle forme d'érotisme soit en train de naître: peut-être engend:cra-t-elle de nouveaux mythes", Simone de Beauvoir: Le Deuxième sexe (Anm. 2), 395. 5 Héléne Cixous: Die Weiblichkeit in der Schrift. Hg. von Eva Duffner. Berlin: Merve 1980. 6 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 80. 7 Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausgabe. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2000, S. 29. 8 Heinz-Peter Preusser: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000, S. 4. Vgl. den ersten umfassenden Beitrag zur Literatur des 20. Jahrhunderts: Inge Stephan: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1997. 9 Ebd., 10. 10 Jean-Luc Nancy: La Communauté désœuvrée, Partis: Christian Bourgois Editeur 1999 (zuerst 1986), S. 153-154. |